09.08.2021 – 16:12 Uhr
Auffahrunfall nach Fahrspurwechsel, Wer haftet nun?!
Allgemein:
Welcher Autofahrer kennt nicht die folgende Situation? Man fährt mit dem Auto auf einer Straße mit zwei Fahrspuren in eine Richtung. Man hält den erforderlichen Abstand zum „Vordermann“ ein. Plötzlich „quetscht“ sich der Fahrer eines anderen Autos mit seinem Fahrzeug von der parallel laufenden Spur in die Lücke, die zuvor gerade so für den eigenen Mindestabstand zum vorfahrenden Fahrzeug ausgereicht hatte. Mit anderen Worten der eigene Abstand zu dem neu einscherenden Fahrzeug beträgt in dieser Sekunde so gut wie „null“. In dieser Situation kommt es oft dazu, dass der neu Einscherende noch zusätzlich bremsen muss, um nicht dem vorfahrenden Fahrzeug aufzufahren.
Um einen Unfall zu vermeiden, muss man somit schnellstmöglich selbst bremsen, um den Mindestsicherheitsabstand zum (neuen) „Vordermann“ wiederherzustellen, bzw. um dem einscherenden Fahrzeug nicht selbst „in den Kofferraum zu fahren“. Dabei hofft man, dass der rückwärtige Verkehr so geistesgegenwärtig ist, auch zu Bremsen.
Aber was ist eigentlich, wenn einer der Beteiligten nicht mehr rechtzeitig bremsen kann und es zu einem Verkehrsunfall kommt? Wer muss was beweisen? Und wer haftet im Endeffekt?
Dieser Beitrag soll diese Fragestellungen im Überblick behandeln, ohne jedoch einen Anspruch auf Vollständigkeit zu haben. Dieser Beitrag ersetzt natürlich auch keine Rechtsberatung im Einzelfall.
Grundsätze des Anscheinsbeweises:
Der Anscheinsbeweis ist eine besondere Variante des Indizienbeweises. Er gilt bei typischen Geschehensabläufen, also Fällen, in denen die allgemeine Lebenserfahrung auf einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen einer Ursache und einer konkreten Wirkung hinweist (BGH NJW-RR 2014, 1115; NJW 2013, 2901). Gerade im Straßenverkehr spielt der Anscheinsbeweis daher eine erhebliche Rolle. Ist ein solcher, typischer Sachverhalt gegeben, spricht also die allgemeine Lebenserfahrung für einen gewissen Ursachenzusammenhang, wird ein Gericht den entsprechenden Beweis grundsätzlich als erbracht ansehen, wenn nicht konkrete Besonderheiten des Einzelfalles einen anderen Schluss nahelegen (der Anscheinsbeweis also „erschüttert“ wird).
Der Anscheinsbeweis ist auch deshalb besonders, weil er von den allgemein anzuwendenden Beweisgrundsätzen abweicht. Denn normalerweise muss jeder diejenigen Tatsachen beweisen, die den eigenen behaupteten Anspruch begründen. Will man also etwa Schadenersatz wegen der Beschädigung einer Sache, muss man grundsätzlich beweisen, dass der etwaige Anspruchsgegner die Sache tatsächlich schuldhaft kaputt gemacht hat und dadurch ein Schaden entstanden ist. Nicht so beim Anscheinsbeweis, der die Kausalität zwischen Handlung und Schaden sowie die darin zu sehende Pflichtverletzung aus der allgemeinen Lebenserfahrung entnimmt.
Anscheinsbeweis beim Auffahrunfall:
Bei einem Auffahrunfall gilt isoliert betrachtet ebenfalls der soeben beschriebene Anscheinsbeweis.
Denn wenn ein Fahrer eines Fahrzeuges mit dem Wagen eines anderen durch „hinten Auffahren“ kollidiert, sagt die allgemeine Lebenserfahrung, dass der Auffahrende „wohl nicht aufgepasst“ oder „wohl zu wenig Abstand gehalten“ hat.
„Wer auffährt ist schuld“, heißt es daher oft, wenn man sich mit juristischen Laien unterhält. Dies ist mit Blick auf das oben Ausgeführte auch nicht ganz falsch, stimmt aber nicht immer.
Anscheinsbeweis beim Unfall nach Spurwechsel:
Gleiches wie beim „hinten Auffahren“ gilt auch bei einem Unfallereignis nach Spurwechsel. § 7 Absatz 5 Satz 1 StVO schreibt vor, dass ein Fahrstreifen nur gewechselt werden darf, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
Passiert ein Unfall unmittelbar nach einem Spurwechsel ist ebenfalls ein Anscheinsbeweis anzunehmen, da ein nach der Lebenserfahrung typischer Ursachenzusammenhang zwischen Spurwechsel und Unfallereignis gerichtlich anerkannt ist. Denn bei einem Unfall nach Spurwechsel ist allgemein anzunehmen, dass der Spurwechselnde wohl gerade nicht alles Zumutbare getan hat, um die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschießen. Wie oben, ist es Aufgabe des Betroffenen (Spurwechslers) den Anscheinsbeweis zu erschüttern.
Der Anscheinsbeweis gilt aber natürlich nicht „ewig“. Denn z.B. zehn Minuten nach dem Spurwechsel, wird niemand mehr ernsthaft ein dann eintretendes Unfallereignis auf den sich bereits vor zehn Minuten ereigneten Spurwechsel zurückführen wollen. Wenn der rückwärtige Verkehr nämlich nach dem Spurwechsel ausreichend Zeit hatte, sich auf die neue Situation einzustellen, um insbesondere den Sicherheitsabstand wiederherzustellen, kann der Spurwechsel nicht mehr alleinursächlich für den Unfall sein, weshalb dieser Anscheinsbeweis dann nicht mehr anwendbar ist. Vielmehr wird dann im Zweifel der Auffahrende wieder im Rahmen des Anscheinsbeweises in den Fokus genommen werden.
Verhältnis zwischen Spurwechsel und Auffahrunfall:
Der Anscheinsbeweis des Spurwechsels „schlägt“ den des Auffahrens im Zweifel vollständig, sodass anzunehmen ist, dass der Spurwechsler die volle Verantwortung und Kosten des Unfalls zu tragen haben wird, solange der Anscheinsbeweis des Spurwechsels besteht.
Ob oder welche Anscheinsbeweise im konkreten Einzelfall bestehen und wer am Ende haftet, bedarf natürlich individueller Prüfung.
Fazit:
Die konkrete Beweislage ist im Grunde in jedem Rechtsstreit eine der entscheidenden Fragen, die über Obsiegen oder Niederlage vor Gericht oder auch außergerichtlich entscheiden. Gerade im Straßenverkehrsrecht ist auch der Anscheinsbeweis ein nicht zu unterschätzender Faktor, da er die Beweislast ein Stück weit verschiebt. Aufgrund der Vielschichtigkeit der möglichen Verkehrssituationen, die rechtlich oft sehr unterschiedlich zu bewerten sind, sollte nach dem Unfallereignis schnellstmöglich der Rechtsbeistand des Vertrauens befragt werden.